Kürzlich sah ich an einem frühen Freitagabend von meinem Fenster im zweiten Stock aus etwas kugeliges Schwarzes unten im Laubhaufen hinterm Rhododendron hocken. Ich dachte an ein entlaufenes Meerschweinchen, denn so sah das aus der Ferne aus.
Als ich dann in den Garten ging, um mir das mal näher anzuschauen, blinzelten mich hinter einem spitzen, schon recht furchteinflößend aussehenden Schnabel zwei kluge, dunkle Augen an.
Ich dachte zuerst an ein etwas dämliches Krähenweibchen, dass sich schlicht den falschen, weil gefährlichen Platz zum Nisten ausgesucht hatte, erkannte aber dann schnell, dass es sich wohl noch um eine junge Krähe handeln musste, genaugenommen um eine Rabenkrähe, wie mich mein Naturführer lehrte.
Bei dem Versuch vogelicherseits, die unerwünschte Nähe zu mir etwas zu reduzieren, zeigte sich dann, dass das Tier flugunfähig war und zudem ordentlich humpelte.
Wir riefen dann bei der Wildvogelauffangstation an, die sich aber leider nicht zuständig fühlte (hä?), beim Vogelpark, der aber nur attestiert gesunde Vögel aufnimmt, und anschließend in der nächstgelegenen Tierklinik, die uns einige Auskünfte erteilen konnte.
So entschlossen wir uns dann, da die Tierklinik für uns Autolose leider nicht so leicht zu erreichen war, die Krähe erst nach dem Wochenende zum Tierarzt zu bringen.
Der Freund war nicht begeistert von dem Gedanken, sich dem Vogelvieh anzunehmen, besonders nicht, nachdem eine (Eltern?)krähe nachmittags schon einen beinahe tätlichen Angriff auf ihn verübt hatte.
Auch jetzt kreisten aufgeregt krächzende und kreischende schwarze Vögel über uns, und wir wussten nicht so recht, was tun.
Da wenige Meter weiter aber schon ein geköpftes Familienmitglied des Tieres lag, dachten wir, sitzenlassen ist nicht.
So holte ich dann vom Dachboden das Gitter des alten Rattenkäfigs, und das keine Sekunde zu spät, die schräg gegenüber wohnende Siamkatze saß schon drei Meter neben dem Federvieh und witterte einen zarten Snack. Nachdem der Freund den ganz offensichtlich flugunfähigen Vogel in eine baumbewachsene Ecke des Gartens getrieben hatte, bunkerten wir ihn also gemeinsam ein. Fand er nicht so toll, aber naja, besser als von der Nachbarskatze zerfleddert werden ist es allemal.
Es gab dann noch ein Schälchen mit Wasser und eins mit vom letzten Schützling verbliebenem eingeweichten
Igelfutter, und dann hofften wir, dass er die Nacht so gut übersteht.
Samstag und Sonntag gab es dann immer mal frisches Wasser und Futter, und wir waren erstaunt, dass sich der Vogel tatsächlich, ohne rabiat zu werden, von mir hochnehmen ließ. Ganz schön leicht und dünn, so ein Federknäuel.
Und gut, dass ihm noch niemand verraten hatte, wozu das Ding da in seinem Gesicht so gut ist.
Am Montag brachten wir ihn dann direkt am Morgen noch vor der Arbeit zur Tierärztin, die sich den Vogel besah, feststellte, dass ihm am Hintern eine Menge Federn fehlten und er recht abgemagert sei. Ansonsten war er aber gesund, und so stiefelten wir direkt im Anschluss zum nur zwanzig Minuten entfernten Vogelpark, wo er mit dem Versprechen angenommen wurde, eine Weile aufgepäppelt und dann wieder freigelassen zu werden.
Mit etwas Glück hat der kleine Langschnabel jetzt also noch rund zwanzig schöne Rabenjahre vor sich.
Wenn ihr genau hinschaut, seht ihr, dass die Rabenkrähe noch blaue Augen hat. Die werden erst später braunschwarz, wenn das Tier mit rund einem halben Meter (!) Länge ausgewachsen ist.